Darstellungen von Furcht und Angst als Mittel der Kulturkritik in Thomas Hettches Roman "Pfaueninsel" (2014)
Abstract
Der Beitrag befasst sich mit Thomas Hettches Roman Pfaueninsel, der sich in die historiographische Metafiktion, d.h. eine neue Erscheinungsform des historischen Romans, einordnen lässt. In dem Roman wird die fiktive Biographie von Marie Strakon, einer Zwergin im Dienste des Königs von Preußen im 19. Jahrhundert, mit der Biographie eines Ortes verwoben: Der Pfaueninsel bei Berlin. Die Insel wird in einen englischen Landschaftspark, ein künstliches Paradies und eine Ersatzkolonie verwandelt, die Preußens Machtansprüche verkörpert. Hettches Roman wird im Hinblick auf die Motive der Furcht und Angst (i.S.v. Karl Jaspers bzw. Søren Kierkegaard) und deren Funktion im Text gedeutet. Die Quelle dieser Gefühle sind für die Figuren sowohl Menschen, die von der ästhetischen und biologischen Norm abweichen, als auch der Raum der Pfaueninsel selbst. Auf die Vertreter der Aufklärung wirkt dieser Ort wie das Unheimliche i.S.v. Freud, er erweckt die Angst vor der Wiederkehr des Verdrängten: des archaischen, vorrationalen Weltbildes, dessen Überbleibsel sich auf der Insel trotz aller Modernisierungsmaßnahmen erhalten haben. Die „fremden“ Elemente der Natur und der Landschaft (Palmen, orientalische Gebäude) wiederum rufen in den Protagonisten die Angst vor der kommenden Epoche der Moderne, vor großen sozialen Umwälzungen, historischen und zivilisatorischen Durchbrüchen hervor. Hettche zeigt die Strategien, dieser Angst zu entkommen, und das Modernisierungsparadoxon, das auch heute noch aktuell ist: Alle Versuche, existenzielle Ängste zu lindern – Rationalisierungsmaßnahmen, Fortschritte in Wissenschaft und Technik, die Zurichtung der Natur – lassen nur noch neue Quellen der Angst entstehen.
Schlagworte:
Thomas Hettche, historiographische Metafiktion, historischer Roman, Angst, FurchtLiteraturhinweise
Literaturhinweise
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